Schreiben nach Gehör?
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Die deutsche Rechtschreibung mutet bisweilen ganz schön willkürlich an. Weshalb wird zum Beispiel Vater mit <V>, aber Fuß mit <F> verschriftet? Insbesondere die Rechtschreibreform von 1996 und die Nachbesserungen in den Folgejahren ließen viele ratlos zurück. <Fluss> ist nun richtig, obwohl es zuvor als falsch galt. Wir werfen heute einen Blick auf einige Regeln, die für die Verschriftung von Sprache wichtig sind, und suchen nach versteckten Informationen in geschriebenen Wörtern.
Es gibt einen Merksatz, den wir alle kennen, wenn es um die Schreibung von Wörtern geht: „Das schreibt man genau so, wie man es spricht.“ Jeder Laut soll demnach mit dem gleichen Buchstaben geschrieben werden. Im Umkehrschluss gilt, dass ein Buchstabe am besten immer gleich ausgesprochen wird. Beim Aufschreiben und beim lauten Vorlesen ist dies ganz einfach: Wir müssen nicht lange überlegen, wie wir ein Wort schreiben, und wissen ebenfalls sofort, wie wir ein aufgeschriebenes Wort aussprechen. Das Deutsch, das wir heute schreiben, folgt diesen Regeln nicht strikt: <V> in Vater und <F> in Fuß sprechen wir gleich aus, das <s> in Spiel und Siel hingegen unterschiedlich.
Im Althochdeutschen, also von ca. 750 bis 1050, bestand beim Aufschreiben von Sprache hingegen eine starke Orientierung an der Aussprache. Nachstehend der Anfang von zwei Versionen des Vaterunsers aus der althochdeutschen Zeit:
Fater unser, thu in himilom bist, giuuihit si namo thin. quaeme richi thin. (Weißenburger Katechismus, 9. Jahrhundert)
Fater unseer, thu pist in himile, uuihi namun dinan, qhueme rihhi din, (St. Galler Paternoster, 8. Jahrhundert)
Vater unser im Himmel. Geheiligt werde dein Name. Dein Reich komme. (neuhochdeutsche Übersetzung)
Wer weiß, auf was es zu achten gilt, erkennt an diesen Beispielen einen Nachteil des Prinzips Schreiben analog zum Sprechen: Obwohl die beiden Ausschnitten den gleichen Text aufweisen (mit leicht abweichender Wortstellung), variiert die Schreibweise von einzelnen Wörtern (<unser> vs. <unseer>, <thin> vs. <din>). Das liegt daran, dass die Texte in unterschiedlichen Dialektgebieten geschrieben wurden: Das erste Vaterunser stammt aus dem alemannischen Raum, das zweite aus einem rheinfränkischen Gebiet. Dort werden auch heute noch Wörter wie bist unterschiedlich ausgesprochen. Das schlägt sich in den Schreibweisen nieder: Wenn die Schreiber*innen in St. Gallen das Wort bist mit einem p am Anfang aussprechen, dann schreiben sie es natürlich auch so – pist. In Weißenburg wird das Wort mit einem b am Anfang ausgesprochen und anders verschriftet: bist. Diese Art des Schreibens folgt dem phonologischen, also dem lautbezogenen Prinzip der Sprache.
Sie lässt erahnen, wie in früheren Zeiten gesprochen wurde. Außerdem bietet ein Blick auf die Schrift Rückschlüsse auf Dialekte, so zum Beispiel, wenn in Texten aus zwei Nachbarorten immer wieder die gleichen Unterschiede in der Schreibung auftreten.
Für im 8. und 9. Jahrhundert lebende Menschen war das aber vielleicht nicht ganz so praktisch: Sie wollten einfach nur das Vaterunser lesen, und da waren die Informationen über den Dialekt der Schreiber*innen eher hinderlich. Wer schon mal mit jemandem gesprochen hat, der einen anderen Dialekt spricht, der weiß, dass schnell Probleme und Missverständnisse auftreten können. Das gilt für geschriebene Texte umso mehr, weil es nicht möglich ist, mal eben nachzufragen, wie ein Wort denn gemeint war.
Das ist einer der Gründe dafür, dass wir heute nicht strikt nach dem phonologischen Prinzip schreiben. Ein weiterer kausaler Zusammenhang besteht darin, dass geschriebene Wörter viele Zusatzinformationen aufweisen können, die den Lesenden das Verständnis erleichtern. Ist Ihnen zum Beispiel schon mal aufgefallen, dass die Wörter Haus und Häuser gänzlich unterschiedlich ausgesprochen werden? Der einzige Laut, in dem sie einander gleichen, ist das [h] am Anfang. In Lautschrift sehen sie so aus: [hau̯s] (Haus) und [hɔɪ̯zɐ] (Häuser).
Wenn diese beiden Wörter aber vollkommen unterschiedlich ausgesprochen werden, warum ähneln sie einander in der Schrift? Wir könnten ja Häuser mit <z> schreiben, wenn das die Aussprache besser abbildet, und wir könnten statt <äu> auch <eu> schreiben, so wie im Falle von <heute>. Das sähe dann so aus: <Heuzer>. Komisch, oder? Dass wir das Wort <Häuser> schreiben und nicht <Heuzer> oder <Heuza> ist ein Service für die Leser*innen, damit sie sofort erkennen, dass sie auf Bedeutungsebene zusammengehören.
Es gibt noch eine ganze Reihe von Regelungen in der deutschen Schrift, die nur dazu dienen, die Verwandtschaft von Wörtern anzuzeigen. Wahrscheinlich ist es Ihnen bisher noch nicht aufgefallen, aber im Deutschen existiert kein Wort, das mit einem d am Ende ausgesprochen wird. Steht am Wortende ein <d>, sprechen wir ein [t], also Hunt, Munt, gesunt. Warum schreiben wir die Wörter also mit <d> am Ende? Das machen wir deshalb, weil sie mit anderen Wörtern verwandt sind, die man mit einem [d] ausspricht: Hunde, Mundes, gesunder. Wir möchten, dass die Verwandtschaft auf den ersten Blick erkennbar wird. Es gilt also nicht, dass wir schreiben, wie wir sprechen, sondern hier ist eine andere Regel wichtiger: Wörter mit gleicher oder ähnlicher Bedeutung sollen so ähnlich wie möglich aussehen. Dies folgt dem morphologischen Prinzip, das die Zusammensetzung von Wörtern in den Blick nimmt.
Leser*innen wird es so erleichtert, die Bedeutung von Wörtern zu erkennen, aber gleichzeitig müssen Schreiber*innen genauer überlegen, was richtig ist, und dabei viel über die Sprache und Wörter wissen: <Länder> wird mit <ä> verschriftet, weil es das verwandte Wort Land gibt, das mit einem <a> zu schreiben ist. Um ableiten zu können, dass <Lenker>, das fast genauso ausgesprochen wird, mit einem <e> daherkommt, muss bekannt sein, dass kein verwandtes Wort mit <a> existiert. Darüber sinnieren wir beim Schreiben normalerweise nicht angestrengt. Wir haben unser ganzes Leben lang bereits Erfahrungen mit Sprache gesammelt und lesen jeden Tag so viel, dass wir Derlei mittlerweile unterbewusst wissen.
Wird bedacht, dass es für die richtige Schreibung von Wörtern also viel Weltwissens bedarf, ist es kein Wunder, dass Kinder häufig beim Schreiben <e> und <ä> oder <d> und <t> verwechseln. Folglich kann sich in einem Aufsatz auch mal so etwas finden: „Der Hund bis dem Jeger in sein Bein“. Der Satz ist so geschrieben, wie er gesprochen wird: Zwischen den Wörtern bis und biss besteht in der Aussprache ja kein Unterschied. In Norddeutschland machen wir zudem keinen Unterschied in der Aussprache von <ä> und <e>. Im Schreibprozess mag das logisch erscheinen. Während des Lesens bereitet es aber Probleme, weil wir so sehr daran gewöhnt sind, dass Schreiber*innen den Hauptteil der Denkarbeit für uns übernehmen und wir nicht selbst knobeln müssen.
Neben den beiden hier beschriebenen Möglichkeiten gibt es noch viele andere Arten, Zusatzinformationen in geschriebenen Wörtern zu verstecken – und zwar nicht nur zur Wortverwandtschaft. Verschiedene Sprachen nutzen diese Optionen unterschiedlich stark.
Fallen Ihnen noch Beispiele für Rechtschreibfehler ein, die sich mit dem phonologischen Prinzip erklären lassen? Schreiben Sie uns gerne. Wir freuen uns.
Weiterführende Literatur
Dürscheid, Christa (2012): Einführung in die Schriftlinguistik. Mit einem Kapitel zur Typographie von Jürgen Spitzmüller. 4., aktualisierte und korrigierte Auflage. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.
Nübling, Damaris, Dammel, Antje, Duke, Janet & Szczepaniak, Renata (2013): Historische Sprachwissenschaft des Deutschen. Eine Einführung in die Prinzipien des Sprachwandels. Tübingen: Narr.