Die Schrift – reich an Informationen
Seiteninhalt
In dem Beitrag zum Schreiben nach Gehör haben wir euch gezeigt, dass in der deutschen Schrift nicht nur die Aussprache von Wörtern festgehalten wird, sondern auch Informationen über Verwandtschaften mit anderen Wörtern. Heute widmen wir uns der Frage, wie sich unser Wissen über Silben, Satzstrukturen, Höflichkeit und Textsorten in der Schrift niederschlägt, ohne dass wir es bemerken. Außerdem wird deutlich werden, wie das Zusammenspiel all dieser unterschiedlichen Faktoren zu der Schreibung führt, die wir täglich verwenden.
Grundsätzlich gilt es festzuhalten: Das phonetische Prinzip ist für die Verschriftlichung der Aussprache zuständig, das morphologische Prinzip für die Kodierung der Verwandtschaft. Vor allem das morphologische Prinzip ist ein toller Service für alle, die Texte lesen, weil es die Verbindungen zwischen Wörtern klarer macht, sodass wir uns den Inhalt schneller erschließen können. Bei der Verschriftlichung von Sprache haben aber auch viele andere Sprachebenen ihre Finger im Spiel, die wir nun der Reihe nach durchgehen:
Lexikalisches Prinzip
Das lexikalische Prinzip dient dazu, ein Wort als Einheit hervorzuheben und seine Zugehörigkeit zu bestimmten Wortarten (im Deutschen vor allem zu den Substantiven) zu markieren. Außerdem zeigt sich hier gewissermaßen das Gegenstück zum morphologischen Prinzip: Wenn alle Wörter, die miteinander verwandt sind, gleich geschrieben werden sollen, folgt daraus, dass nicht verwandte Wörter abweichend zu schreiben sind, damit hier keine Verwechslungen entstehen. Das ist der Grund für die Unterscheidung zwischen <dass> und <das> und <seid> und <seit>. Es gibt auch eine Handvoll Substantive, die davon betroffen sind, beispielsweise <Seite>/<Saite> und <Weise>/<Waise>. Wie sinnvoll dies in Anbetracht dessen ist, dass der Kontext in der Regel ausreicht, um zu wissen, von welcher Seite/Saite die Rede ist und dass wir die Unterscheidungen beim Sprechen nicht machen, uns aber trotzdem verstehen, sei dahingestellt.
Ganz grundlegend zeigt sich das lexikalische Prinzip aber auch darin, dass wir zwischen einzelnen Wörtern Leerzeichen setzen und nichteinfachalleamstückschreiben, obwohl wir beim Sprechen keine hörbaren Pausen einlegen. Das Leerzeichen ist also etwas, das es nur in der geschriebenen Sprache gibt. Einige Schriften nutzen keine Leerzeichen. Im alten Rom wurde Latein zum Beispiel in Scriptio continua geschrieben, also ohne Wortabstände. Auch auf das Deutsche traf das anfangs zu, doch mit dem Übergang vom lauten zum leisen Lesen hat es sich etabliert, regelmäßig Leerzeichen zu setzen.
Die satzinterne Großschreibung ist ebenfalls dem lexikalischen Prinzip zuzuordnen. Wo immer wir im Satzinnern einen Großbuchstaben sehen, können wir uns sicher sein, dass das Wort ein Substantiv ist (oder ein Teil von einem Eigennamen wie <das Rote Meer>). Das erleichtert es, die Struktur von Sätzen zu erkennen.
Silbisches Prinzip
Ein Verschriftungsprinzip, das wir in der Schule gelernt haben, ist das silbische. Es ist dafür verantwortlich, wie wir Wörter am Zeilenende trennen. Knapp gefasst setzt man Bindestriche immer nur an der Grenze zwischen zwei Silben, wie sie sich beim langsamen Vorlesen ergeben: <Glo-bus>, <Jä-ger>, <Men-schen>. Die letzte Rechtschreibreform hat das silbische Prinzip gestärkt. Nach der alten Rechtschreibung wurde das <s> nicht vom <t> getrennt (… denn es tut den beiden weh), obwohl genau zwischen diesen beiden Lauten die Silbengrenze verläuft (Weste wurde also als <We-ste> getrennt). Die heute vorgeschriebene Trennung ist <Wes-te>. Sie bildet die Grenze exakt ab.
Was geschieht, wenn in Wörtern zu zwei Silben gleichzeitig gehörende Konsonanten auftreten? Dieses Phänomen betrifft zum Beispiel Wetter. Die Worttrennung erfolgt genau zwischen den beiden t: <Wet-ter>. Bei einem Wort wie Wecker kommen wir mit dieser Strategie allerdings nicht weit, weil der Konsonant hier nicht einfach verdoppelt ist. Nach der alten Rechtschreibung hätte man das Wort so getrennt: <Wek-ker>. Dass es dann mit zwei k geschrieben wird, wird aber dem morphologischen Prinzip nicht gerecht, das ja besagt, dass das gleiche Wort stets möglichst gleich geschrieben werden soll.
Es besteht noch eine Reihe anderer Regeln zur Worttrennung. Diese sind ebenfalls als ein Service für die Leser*innen aufzufassen, auch wenn das Einprägen im Rechtschreibunterricht von Schreibenden als Schikane empfunden worden sein mag. Das Gute ist ja, dass einen außerhalb der Schule niemand dazu zwingt, Worttrennung am Zeilenende zu betreiben. Und wenn es doch mal gewünscht ist, kann das Textverarbeitungsprogramm des Computers zum Glück den Hauptteil der Arbeit übernehmen.
Syntaktisches Prinzip
Leicht vereinfacht lässt sich sagen, dass das syntaktische Prinzip dafür zuständig ist, die Struktur von Sätzen und die Beziehungen zwischen deren Einzelteilen anzuzeigen. Hauptsächlich zeigt sich das syntaktische Prinzip in der Zeichensetzung. Auch diese ist ein rein schriftliches Phänomen. In der gesprochenen Sprache kommen wir ganz hervorragend ohne Komma und Punkt klar. Wir legen zwar manchmal eine kurze Pause zwischen Redeabschnitten ein, aber das Komma oder den Punkt können wir nicht aussprechen wie einen Buchstaben. In der geschriebenen Sprache verhilft die Interpunktion dazu, die Struktur eines Textes zu erfassen. Ein Punkt markiert das Ende (und den Anfang eines neuen) Satzes. Ein Komma weist auf einen neuen Teilsatz hin. Das Semikolon beschreibt, dass zwei gleichrangige Sätze nebeneinanderstehen, die inhaltlich zusammengehören. All diese Zeichen sind erst im Laufe der Zeit in der deutschen Schriftsprache angekommen. Erst nach dem Mittelalter wurde der Satzendpunkt regelmäßig gesetzt, und bis zur konsequenten Setzung des Kommas dauerte es sogar noch länger. Einsortiert wird hier außerdem die Großschreibung am Satzanfang, weil sie schon vor der konsequenten Setzung des Punkts den Anfang eines neuen Satzes anzeigte.
Pragmatisches Prinzip
Die Pragmatik ist die Lehre vom Handeln mit und durch Sprache. Das umschließt zum Beispiel die Fragen, wie Aufforderungen formuliert werden oder wie Höflichkeit funktioniert. Das pragmatische Prinzip beschreibt, wie sich solche Aspekte in der Schrift niederschlagen. Der Ausdruck von Höflichkeit durch die Großschreibung des Anredepronomens Sie fällt zum Beispiel darunter (und gleichzeitig unter das lexikalische Prinzip, weil dadurch 2. und 3. Person voneinander unterschieden werden). Ausrufe- und Fragezeichen machen auf den ersten Blick deutlich, um welche Art von Satz es sich jeweils handelt und was bewirkt werden soll: Ein Fragezeichen weist auf ein Wissensdefizit hin, auf das Lesende möglicherweise reagieren sollen. Das Ausrufezeichen kann einen Appell beinhalten (Hol das Auto!) oder einen hohen Grad an Emotionalität (Oh nein! Das ist ja furchtbar!).
Ein neueres Phänomen, das ebenfalls durch das pragmatische Prinzip abgedeckt wird, ist das Setzen von Emoticons und Emojis. Sie geben den Lesenden zu verstehen, wie das Geschriebene gemeint ist. Ob ein Satz zum Beispiel ironisch konnotiert ist, lässt sich geschriebenen Worten an sich ja nur schlecht ansehen, da die begleitende Gestik, die Mimik und die Sprachmelodie fehlen.
Textuelles Prinzip
Das textuelle oder textuale Prinzip funktioniert auf einer anderen Ebene, als es auf die bisher vorgestellten Prinzipien zutrifft. Es hat nichts mit der Schreibung einzelner Wörter oder der Setzung von Interpunktionszeichen zu tun, sondern betrifft die Gestaltung von ganzen Texten. Auch das textuelle Prinzip steht ganz im Zeichen der Vereinfachung des Lesevorgangs: Das Aufteilen eines Textes in Absätze, das Einrücken der ersten Zeile eines neuen Absatzes, das Setzen von Überschriften und Zwischenüberschriften, die Kennzeichnung von Listen durch Spiegelstriche, Fettdruck, Kursivsetzung – das alles gehört zum textuellen Prinzip und erleichtert es deutlich, einen Text zu überblicken, ohne auch nur ein einziges Wort zu lesen.
Besonders interessant ist die äußere Gestalt diverser Textsorten. Sie gilt heute als Selbstverständlichkeit, aber es war nicht immer so, dass Kochrezepte, Gedichte und Bewerbungsanschreiben unterschiedlich daherkamen. Vor der vermehrten Ausdifferenzierung in der Frühen Neuzeit sahen die meisten Textsorten im Prinzip gleich aus. Heutzutage sind sie direkt an ihrem Äußeren zu erkennen. Es gibt natürlich nicht für jede einzelne Sorte eine spezifische Form, aber es haben sich für eine Reihe spezieller Texte sehr genaue Normen entwickelt.
Das komplexe Gefüge der Verschriftungsprinzipien
Die Schreibung, die wir heute verwenden, ist das Produkt eines jahrhundertelangen Aushandlungsprozesses zwischen den Prinzipien. Einige von ihnen können zu einander widersprechenden Schreibungen führen, wenn sie konsequent genutzt werden. Dass wir in der Schrift einen Unterschied zwischen Sie, sie und sieh machen, ist zum Beispiel dem pragmatischen, dem lexikalischen und dem morphologischen Prinzip dienlich, dem phonetischen weniger, weil die drei Wörter gleich ausgesprochen werden.
Im heutigen Deutsch sind das phonetische und das morphologische Prinzip die wichtigsten Verschriftungsprinzipien: Unsere Schreibung basiert grundlegend auf der Aussprache von Wörtern, aber wir weichen sehr häufig davon ab, um Verwandtschaften anzuzeigen, und haben viele Features in die Schreibung integriert, die keine lautliche Entsprechung haben. Auch die anderen Prinzipien haben einen Einfluss, aber der ist lange nicht so stark. Deshalb hat zum Beispiel nicht jede Textsorte ihre eigene, spezielle Gestalt. Das Geflecht aus unterschiedlichen Verschriftungsprinzipien führt immer dazu, dass ein Schriftsystem zustande kommt, das die Interessen der Schreibenden und jene der Lesenden ausbalanciert. Für alle Sprachen und Schriftsysteme gilt aber gleichermaßen: Wer einen Text liest, soll so einfach wie möglich so viele Informationen wie möglich erfassen können. Aber es soll auch nicht zu kompliziert werden, einen Text zu schreiben. Da wir täglich wesentlich mehr lesen, als wir schreiben, hat sich unser Schriftsystem dahin entwickelt, dass die Perspektive der Lesenden favorisiert wird. Verschiedene Schriften sind allerdings nach wie vor unterschiedlich stark an Leser*innen beziehungsweise Schreiber*innen orientiert. Im Spanischen und Türkischen hat das phonetische Prinzip beispielsweise einen viel höheren Stellenwert als im Deutschen. Im heutigen Englisch ist hingegen die Aussprache für die Rechtschreibung viel weniger relevant.
Weiterführende Literatur
Nübling, Damaris, Dammel, Antje, Duke, Janet & Szczepaniak, Renata (2013): Historische Sprachwissenschaft des Deutschen. Eine Einführung in die Prinzipien des Sprachwandels. Tübingen: Narr.