Hat meine Geschichte Potenzial?
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Viele Erstautorinnen und -autoren stellen sich diese Frage und erhoffen sich von einem Lektorat eine erste Einschätzung. Sie möchten wissen, ob sie fortfahren oder das Schreiben lieber ganz sein lassen sollten. Eines vorweg: Niemandem würden wir raten, das Schreiben ad acta zu legen. Doch bisweilen ist es unumgänglich, schonungslos mitzuteilen, dass der produzierte Text nicht als Geschichte betrachtet werden kann. Wie lässt sich das feststellen, und wie können Sie als Autor*in es selbst überprüfen?
Form und Struktur
Eine Geschichte ist wie ein Stuhl: Wer ihn vor sich hat, erkennt ihn: vier Beine, eine Sitzfläche, vielleicht eine Rückenlehne und Armstützen. Schaukelstühle gelten auch, ebenso Schemel mit drei Beinen und vieles mehr. Es liegt eine Grundstruktur vor, die wir identifizieren können als: Ja, darauf zu sitzen, ist möglich.
Eine Geschichte weist ebenfalls bestimmte Merkmale auf: eine Struktur, Anfang, Mitte und Ende (nicht notwendigerweise in der Reihenfolge) sowie Figuren, die handeln, etwas wollen, nach etwas streben. Es gibt ein Ziel, das erreicht wird oder nicht, und Hindernisse, die die Figuren überwinden müssen, um an das Ziel zu gelangen. Das Ganze ist aus Wörtern und Sätzen zusammengesetzt, die im besten Fall gut klingen. Von diesen Regeln abzuweichen, ist bis zu einem gewissen Grad möglich, ohne dass das Wesen der Geschichte verloren geht – ähnlich wie im Falle des Stuhls.
Hier ist es aber unerlässlich, bestimmte Regeln zu beachten. Ein wenig sollten Sie sich also mit Geschichten im Allgemeinen und deren Aufbau beschäftigen, wenn auch nur anhand der analytischen Lektüre von Büchern, die Ihnen gefallen. Theoretische Ansätze gibt es genug, angefangen bei Aristoteles’ Tragödie bis hin zum Heldenepos. Wie ein*e Handwerker*in müssen auch Sie lernen, wie vorzugehen ist, welche Elemente wichtig sind, wie Sie zusammengefügt werden und vieles mehr.
Wann ist ein Text noch keine Geschichte?
Die folgenden Anhaltspunkte helfen Ihnen, einzuschätzen, ob etwas Verschriftetes als eine Geschichte einzustufen ist. Sie lassen sich allesamt korrigieren, sodass keiner der Punkte dazu führen sollte, das Schreiben aufzugeben.
- Es ist unklar, welche Geschichte erzählt werden soll. Das liegt oft daran, dass es zwar ein Grundthema gibt, aber keine genaue Vorstellung davon, wie dieses auf die Lebenswelt einer Figur übertragen werden kann. Oftmals weisen große Konzepte zu besonderen Welten (vor allem Science Fiction und Fantasy) nur rudimentär entwickelte Figuren auf, die lediglich dazu dienen, die Welt zu zeigen. Das wird auf Dauer langweilig.
Lösungsvorschlag: Entwickeln Sie eine Figur, die mit einem oder mehreren Aspekten dieser Welt hadert oder in einem Konflikt steht, und beobachten Sie, wie sich diese Figur in der Welt bewegen würde. - Es fehlen Hindernisse. Wenn eine Figur zu schnell oder zu einfach zu ihrem Ziel gelangt, kommt keine Spannung auf.
Lösungsvorschlag: Legen Sie der Figur Steine in den Weg, am besten sehr viele. - Den Lesenden bleibt unklar, welcher Figur sie folgen sollen. Eine klassische Geschichte wartet mit einer Protagonistin oder einem Protagonisten auf. Sogar, wenn mehrere Handlungsstränge bestehen, ist einer meist der dominierende. Gibt es zu viele Handlungsstränge und Figuren, zerfasert die Geschichte schnell, und die Lesenden wissen nicht mehr, was erzählt werden soll. Um viele Handlungsstränge gut unterzubringen, braucht es eine besonders durchdachte Planung.
Lösungsvorschlag: Besinnen Sie sich nochmal auf den Plot und untersuchen Sie, welche Figuren Sie wirklich brauchen, um die Geschichte zu erzählen. Alle anderen können getrost rausfliegen. - Es gibt keinen Plot. Wir folgen einer Figur durch ihr Leben, aber es fehlt das eine Ziel, das erreicht werden will oder muss. Das passiert oft im Falle von sogenannten Cradle-to-grave-Biografien oder autobiografischen Texten. Hier stolpern wir von Episode zu Episode, ohne dass wahre Spannung aufkommt.
Lösungsvorschlag: Natürlich lässt sich ein Leben nicht in die engen Strukturen eines Plots pressen, aber vielleicht gibt es Punkte, die sich herausarbeiten lassen, um an ihnen entlang zu erzählen.
Genreregeln
Wenn wir erkannt haben, dass etwas ein Stuhl ist, fällt uns meistens ebenso schnell auf, welche Art von Stuhl es ist: Bürostuhl oder Zahnarztstuhl, Thron oder Melkschemel, Gartenstuhl oder Schuhputzhocker. Es gibt je eigene Regeln, die erfüllt sein müssen, damit sie ihrem Zweck nachkommen können.
Dasselbe gilt für Literaturgenres. Ein Kinderbuch folgt anderen Regeln als ein Thriller, ein Liebesroman oder ein Krimi. Deswegen wartet Ihr Thriller nicht nur mit 32 Seiten und vielen Bildern auf, und in einem Liebesroman sollte es um die Liebe gehen. Zudem hat jedes Genre einen eigenen Sprachstil. Machen Sie sich also Gedanken darüber, was Sie schreiben möchten und welche Regeln für das jeweilige Genre gelten. Auch die Leser*innen hegen bestimmte Erwartungen, wenn Ihre Geschichte unter einem spezifischen Genre läuft. Werden diese nicht erfüllt, sind sie enttäuscht. Und hier ist es wichtig, die Regeln zu kennen und zu beherrschen, bevor sie gebrochen werden.
An dieser Stelle kommt meist das Wort Potenzial ins Spiel. Hat Ihre Geschichte das Zeug, seitens der anvisierten Leserschaft gut aufgenommen zu werden? Nun, wenn Sie eine solide Geschichte erschaffen und sich an die Genreregeln gehalten oder sie in einer interessanten Weise gebrochen haben, dann ist der Rest Feinschliffarbeit. Vielleicht ist der Mittelteil zu ausschweifend, oder die Motivationen sitzen noch nicht ganz, vielleicht müssen Sie später in die Geschichte gehen, um früher einen Sog zu erzeugen, vielleicht fehlt hier und da noch ein wenig Action, aber all das gehört zu der normalen Arbeit, die Lektor*in und Autor*in gemeinsam leisten.
Design und Geschmack
Ob eine bestimmte Person ein Buch am Ende mag oder nicht, hängt natürlich von dem Aspekt ab, der sich am wenigsten beeinflussen lässt: dem Geschmack. Hier gilt das Gleiche wie für das Design eines Stuhls. Er mag ein guter Stuhl sein, er kippelt nicht, er ist stabil, vielleicht sogar bequem, aber wenn mir der Bezug nicht gefällt, war’s das. Viele haben schon ein Buch in den Händen gehalten, das von der Ehepartnerin, der Familie oder der Literaturkritik gelobt wurde, um festzustellen, dass es ihn ganz und gar nicht anspricht. Es wird immer Menschen geben, deren Geschmack Ihr Buch nicht trifft. Das ist aber keine Kritik an Ihnen oder Ihrem Handwerk, sondern liegt in der Natur der Sache.
Potenzial in der Verlagswelt
Verlage sind Wirtschaftsunternehmen. Sie müssen abwägen, wie viel Arbeit in ein Buch gesteckt werden muss und welcher Return on Investment am Ende zu erwarten ist. Dementsprechend bedeutet Potenzial hier etwas anderes als beispielsweise für das Lektorat. Verlage folgen der Leitfragen „Mit wie wenig Aufwand können wir so viel Profit wie möglich generieren?“. Ihre Geschichte kann also durchaus das Potenzial haben, ein Erfolg zu werden. Wenn aber zu viel Arbeit in Angelegenheiten wie Lektorat, Korrektorat, Publikums- oder Markenbildung und Marketing investiert werden muss, fallen Sie bei einem Verlag leider unten durch. Deswegen werden zum Beispiel bisweilen schlechte Bücher von bekannten Persönlichkeiten verlegt: Die bringen ihr Publikum und damit einen Return on Investment schon mit.
Zum Glück sind Sie heutzutage nicht mehr auf Verlage angewiesen. Wenn Sie dennoch den Weg über den Verlag gehen möchten, sollten Sie sich und Ihre Geschichte von der besten Seite präsentieren. Je geschliffener der Text, je sauberer die Sprache, je weniger Fehler, desto mehr Chance haben Sie, angenommen zu werden.
Geben Sie das Schreiben also niemals auf. Es bereichert in jedem Fall, und wenn es nur der persönlichen Weiterentwicklung und dem Gewinnen neuer Erkenntnisse dient, wie wir sie Ihnen hier hoffentlich auch bieten konnten.