Das Sein und der Schein
Schon Goethe schrieb: „Die Welt urteilt nach dem Scheine” (Clavigo, 1774, 4. Akt, Clavigo zu Carlos). In unserem Alltag müssen wir ständig zwischen Schein und Sein unterscheiden. Macht uns jemand etwas vor? Ist etwas wirklich so, wie es zu sein scheint? Wann spielt jemand mit Ironie? Um Aussagen, Annahmen oder Vermutungen und irreale Äußerungen voneinander zu unterscheiden, können wir im Deutschen eine ganze Reihe von Möglichkeiten nutzen – eine davon nehmen wir hier einmal genauer unter die Lupe: den Unterschied zwischen scheinbar und anscheinend. Die beiden eng verwandten Wörter sind auf das Verb scheinen (bzw. das Nomen Schein) zurückzuführen und werden in der Alltagssprache häufig verwechselt, obwohl sie keineswegs dasselbe bedeuten. Um die Bedeutungsunterschiede zu verdeutlichen und aufzuzeigen, dass der Schein nicht seit jeher trügt, lohnt sich ein Blick in die Vergangenheit der deutschen Sprache.
Wer sich auf die Suche nach dem Ursprung von scheinbar begibt, stößt zunächst auf die alt- und mittelhochdeutschen Wörter seiniere bzw. schinbere. Sinngemäß entsprechen sie den heutigen Wörtern sichtbar oder auch leuchtend. So heißt es zum Beispiel im Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm (Band 14): „scheinbar —> adj. glänzend, klar, offenbar, sichtbar”. Scheinbar war also alles, was gesehen oder erkannt wurde, real und in der Welt vorhanden. Der Schein, der heute mit Unehrlichkeit und Heuchelei verbunden wird, trügt dagegen erst seit Ende des 18. Jahrhunderts. Infolge eines steigenden Interesses daran, die Welt aus wissenschaftlicher Perspektive zu betrachten, stand insbesondere in der Philosophie vermehrt die Frage nach der Wirklichkeit im Fokus. Der zutage geförderte Unterschied zwischen Realität und Irrealität machte eine neue Definition des Wortes scheinbar notwendig, die auch in zeitgenössische Wörterbücher Einzug hielt: Es wurde nicht mehr neutral für sichtbare und in der Wirklichkeit vorhandene Dinge gebraucht, sondern als Adjektiv für Irreales, Vorgetäuschtes und der Wirklichkeit nicht Entsprechendes.
Woher stammt aber das Wort anscheinend, mit dem wir scheinbar viel zu oft verwechseln? Es ist von dem heute so gut wie nicht mehr vorhandenen frühneuhochdeutschen Verb anscheinen abgeleitet, das so viel bedeutete wie beleuchten oder bestrahlen. Sein Partizip Präsens, das erst seit dem 18. Jahrhundert belegt ist, wird seither als Adverb synonym zu offenbar oder offensichtlich verwendet. Mit anscheinend kann also eine Vermutung geäußert werden, nach der etwas allem Anschein nach wahr ist, also so ist, wie es zu sein scheint. Trotz dieser eindeutigen Definitionen der beiden Begriffe kommt es häufig zu Verwechslungen, und das Wort scheinbar rückt an die Stelle, an der eigentlich ein anscheinend angebracht wäre. Dieses Phänomen lässt sich unter anderem sprachökonomisch begründen: Immerhin hat der Begriff scheinbar eine Silbe weniger als sein Verwandter. Zusätzlich existiert das Wort scheinbar schon um Einiges länger als das Wort anscheinend, und die über 250 Jahre angepriesene normative Unterscheidung zwischen beiden Begriffen fand offenbar nur bedingt Eingang in die von uns täglich verwendete Sprache.
Eine weitere Erklärung für die häufigere Verwendung von scheinbar liegt in der Tatsache, dass wir in spontanen sprachlichen Äußerungen meist nicht schnell genug einschätzen können, ob etwas real oder irreal ist. Dabei kann die Unterscheidung in manchen Fällen relativ zwingend sein (es sei denn, die angesprochene Person ist sich ebenfalls unsicher). Ein Beispiel: „Die Richterin ist scheinbar unparteiisch” wäre eine fatale Aussage, da suggeriert wird, dass die Richterin in ihrer Entscheidung nur frei zu sein scheint. Somit wird das Gegenteil ausgesagt, nämlich, dass die Richterin parteiisch ist. Ersetzt man aber scheinbar durch anscheinend, wird die Aussage zu einer (vertretbaren und hoffentlich auch) wahrheitsgemäßen Vermutung: „Die Richterin ist allem Anschein nach und ganz offensichtlich wirklich unparteiisch.” Ein sprachliches und vor allem rhetorisches Mittel, das uns dazu zwingt, Schein und Sein voneinander zu trennen, ist die Ironie: Hier versteckt sich hinter scheinbarem Ernst ein spöttischer Inhalt und das Gegenteil des eigentlich Gesagten. Ob jemand es scheinbar oder anscheinend ernst meint, ist keineswegs zu verwechseln. „Tolle Frisur!” kann nur scheinbar ernst (und anscheinend ironisch) gemeint sein, wenn sich jemand einen Scherz über die frisch geföhnte Dauerwelle erlaubt. Ist dieses Kompliment allerdings ernst gemeint, können wir anscheinend sicher sein: Die Frisur steht uns phänomenal.