Und schon wieder ein Zweifelsfall: angewandt oder angewendet?
Habe ich die Regel nun angewandt oder angewendet? Und warum warten manche Wörter überhaupt mit zwei Perfektformen auf?
Im Falle von senden und einigen anderen Verben bestehen zwei Möglichkeiten, Vergangenheitsformen zu bilden: senden, sendete, gesendet ist die schwache Konjugation. Hier werden an sende das Dentalsuffix -t und die Personenendung (ich sende-t-e, du sende-t-est) angehängt, um die Vergangenheit zu bilden, und ge- sowie -t für das Perfekt. Und dann gibt es noch sandte und gesandt: Erneut ist das Dentalsuffix -t vertreten. Aber woher rührt das a?
Wer hier einen Ablaut vermutet, den starken Verben (sinken, sank, gesunken) entsprechend, liegt falsch. Warum? Weil das Dentalsuffix es deutlich als schwaches Verb ausweist! Starke Verben kommen immer ohne Dentalsuffix aus. Trotzdem ändert sich bei senden – sandte – gesandt der Vokal zu a – und das sieht erstmal aus wie ein Ablaut, der ein Merkmal starker Verben ist. a fungiert jedoch nicht als Ablaut. Eine kleine Zeitreise ins Germanische sorgt für Aufklärung. Dort war senden höchstwahrscheinlich als sandijan in Gebrauch. Anstelle von e fand sich ein a im Stamm (sandijan statt senden). Im Althochdeutschen, das sich aus dem Germanischen entwickelte, wurde das Verb dann zu senten und a zu einem e.
Daran ist das j in sandijan schuld. Ein i oder j in einem Wort beeinflusst häufig die Vokale der vorherigen Silbe: Aus sandijan wird also sendijan und später senten. In der Linguistik würde man sagen: Die Laute j und i heben die Vokale an. Das liegt in der Art und Weise begründet, wie sie ausgesprochen werden: Für j und i muss der Mund geschlossen sein und die Zunge weit nach oben gestreckt werden. Bei a ist die Zunge hingegen sehr weit unten und der Mund sehr weit geöffnet. Von a zu i ist es also ein weiter Weg.
Und das ist auch die Erklärung für die Hebung von a zu e: Wird das a zu e angehoben, verbleibt ein weniger langer Weg zum zum i, denn für e ist der Mund nicht mehr ganz so weit offen und die Zunge nicht mehr ganz so weit unten. Ein Wort ist daher leichter auszusprechen, wenn e und i aufeinander folgen, als wenn a und i zusammentreffen. Deswegen wird der Vokal angehoben.
Jetzt wissen wir, warum ein e in senden steckt. Doch warum beinhaltet gesandt keines? Ganz einfach: Im Präteritum und im Perfekt wurde das a aus sendijan nie zu e angehoben. Das j war in den Vergangenheitsformen nämlich bereits weggefallen, als a zu e angehoben wurde. Es gab also keinen Auslöser. Aufgrund dieser phonologischen Sperenzchen im Germanischen heißt es bis heute senden, aber sandte und gesandt.
Verben mit a in Präteritum und Perfekt werden übrigens Rückumlautverben genannt, weil die Brüder Grimm dachten, dass es mal einen Umlaut in den Vergangenheitsformen gegeben habe, dieser aber wieder rückgängig gemacht worden sei. Heute wissen wir, dass das nie der Fall war. Der Name hat sich trotzdem gehalten.
Und warum schwanken nun die Rückumlautverben zwischen gesandt und gesendet? Der fehlende Umlaut in den Vergangenheitsformen macht das Verb unregelmäßig. Die Vergangenheitsform ist an einen anderen Vokal geknüpft als das Präsens – ein Problem, das wir von den starken Verben kennen. Daher ist es schlau, alle Formen einander anzugleichen. Viele Verben haben diesen Prozess bereits im Mittelhochdeutschen durchlaufen. Wir sehen ihnen heute gar nicht mehr an, dass sie früher einmal sogenannte Rückumlautverben waren. Andere, beispielsweise brennen, haben den Rückumlaut behalten (brennen, brannte, gebrannt). Das hat etwas mit der Frequenz zu tun: Häufig genutzte Verben können sich Unregelmäßigkeiten eher leisten als selten im Einsatz befindliche, weil wir uns besser merken können, wie sie funktionieren.
Im Zusammenhang mit den schwankenden Rückumlautverben lassen sich außerdem interessante Bedeutungszuweisungen beobachten: Senden ohne angepassten Umlaut ist nur möglich, wenn etwas Gegenständliches (zum Beispiel ein Paket) gesandt wird. Eine Serie dagegen kann nicht gesandt werden.